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23.05.2003

Zehn Jahre Fristenregelung im vereinigten Deutschland

- Eine Bilanz der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. - (Mai 2003)

Am 28. Mai 2003 jährt sich zum zehnten Mal der Tag der Verkündung des zweiten Abtreibungsurteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Am 16. Juni 1993 trat die in diesem Urteil getroffenen Anordnung des Gerichts in Kraft. Aufgrund dieser Anordnung sowie des im Wesentlichen am 1.Oktober 1995 in Kraft getre-tenen Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes gilt bezüglich der Abtreibung in Deutschland seit nunmehr bald zehn Jahren eine als „Beratungs-schutzkonzept“ etikettierte Regelung, die nahezu unbestritten der Sache nach einer Fristenregelung mit Beratungspflicht gleichkommt. Genau genommen handelt es sich um eine Fristenregelung mit der Pflicht der Schwangeren zum Besuch einer anerkannten Beratungsstelle und deren Pflicht zum Angebot einer Beratung sowie auf Wunsch zu deren Bescheinigung.

Die Neuregelung zum sog. Schwangerschaftsabbruch geht zurück auf den Eini-gungsvertrag von 1990, der dem gesamtdeutschen Gesetzgeber aufgegeben hatte, spätestens bis Ende 1992 eine Regelung zu treffen, „die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konflikt-situationen schwangerer Frauen besser gewährleistet“ als in den beiden Teilen Deutschlands bisher. Der Erfüllung dieses Auftrags sollte ein Schwangeren- und Familienhilfegesetz dienen, das jedoch aufgrund von Entscheidungen des BVerfG nicht in Kraft trat und letztlich als nicht verfassungskonform befunden wurde.

In seinem Urteil von 1993 hatte das BVerfG das vom Gesetzgeber gewählte sog. Beratungskonzept allerdings grundsätzlich gebilligt. Demnach findet der Straftat-bestand des Schwangerschaftsabbruchs befristet keine Anwendung. Bei Vorliegen eines Indikationstatbestandes sollen Abtreibungen sogar „nicht rechtswidrig“ sein. Die bessere Schutzwirkung einer Beratungsregelung, so das Gericht, sei aller-dings umstritten und ungewiss. Dies hindere den Gesetzgeber zwar nicht grundsätzlich daran, eine solche Regelung einzuführen. Er sei jedoch „gehalten, die Auswirkungen seines neuen Schutzkonzepts im Auge zu behalten“ (Beobachtungspflicht). Stelle sich nach hinreichender Beobachtungszeit heraus, dass das Gesetz das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht gewährleisten könne, so sei der Gesetzgeber verpflichtet, durch Änderung oder Ergänzung der bestehenden Vorschriften auf die Beseitigung der Mängel und die Sicherstellung eines dem Untermaßverbot genügenden Schutzes hinzuwirken (Korrektur- oder Nachbesserungspflicht). Diese Pflichten bestünden auch und gerade nach einem Konzeptwechsel, der nur einen Versuch darstelle (309 f.).

Beobachtungspflicht missachtet
Nach bisheriger Erfahrung drängt sich der Eindruck auf, dass die verantwortlichen Organe nicht ernsthaft daran interessiert sind, die Auswirkungen des Gesetzes in der Praxis zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn bereit sind, aus dem Ergebnis einer Beobachtung Konsequenzen zu ziehen. Die Verteidigung eines „ge-sellschaftlichen Kompromisses“ als Selbstzweck genießt offenbar Vorrang gegen-über dem Gebot eines wirksamen Lebensschutzes. Die gesetzliche Grundlage für eine den Vorgaben des BVerfG (310) entsprechende, aussagekräftige Statistik, anhand deren sich die Entwicklung der Abtreibungszahlen zuverlässig verfolgen ließe, wurde nicht geschaffen. Die zur Bundesstatistik getroffene Regelung ist deshalb verfassungswidrig und bedarf folglich der Nachbesserung. Periodische Berichte der Bundesregierung über die Auswirkungen des Gesetzes, wie sie das BVerfG (310) angeregt hatte, wurden trotz Anmahnung, z.B. durch die Deutsche Bischofskonferenz, nie vorgelegt. Antworten der Bundesregierung auf Anfragen aus dem Bundestag dokumentieren deren Desinteresse an einer genauen Auswer-tung des vorliegenden statistischen Materials.

Reformziel verfehlt
Selbst zufolge der unzureichenden Datengrundlage, die nur Schätzungen zulässt, ist davon auszugehen, dass das erklärte Reformziel einer Verbesserung des Schutzes vorgeburtlichen Lebens verfehlt worden ist. Für den verfassungsrechtlich gebotenen Lebensschutz des einzelnen ungeborenen Kindes, auf welches das BVerfG die staatliche Schutzpflicht primär bezogen sieht (Leitsatz 2), war die geltende Regelung, die eine straffreie Abtreibung aus beliebigen Gründen ermög-licht, von vornherein ungeeignet. Aber auch die erhoffte Verminderung der Gesamtzahl der Abtreibungen ist ausgeblieben. Niemand hat bisher ernsthaft das Gegenteil behauptet oder gar bewiesen. Deutliche Anzeichen sprechen vielmehr für eine Zunahme seit der Gesetzesänderung.

Das Scheitern des gewählten „Schutzkonzepts“ belegt dessen Nichteignung. Manche halten dieses Konzept zwar für das bestmögliche und allemal für besser als eine „reine“ Fristenregelung, wie sie in anderen Ländern gilt. Sie verkennen oder verdrängen dabei allerdings wesentliche kontraproduktive Aspekte des „Beratungskonzepts“. Dieses legt insbesondere den Gedanken an eine „Rechtfertigung durch Verfahren“ nahe und vernebelt dadurch das Rechts-bewusstsein. Indem das Konzept Hilfe zum Leben und Hilfe zum Töten durch Erteilung des Beratungsscheins untrennbar miteinander verknüpft, mindert es die Glaubwürdigkeit des Bemühens um die Rettung jedes einzelnen ungeborenen Kindes. Um der Rettung der einen Kinder willen nimmt es ferner zwangsläufig die Tötung anderer bewusst in Kauf. Damit bricht es mit dem bisher - insbesondere vom BVerfG und vom BGH - anerkannten Rechtsgrundsatz, nach welchem sich, wo es um menschliches Leben geht, jede zahlenmäßige Abwägung verbietet.

Wesentliche Mängel
Von diesen konzeptbedingten Zweifeln abgesehen, ist das Ausbleiben eines aus-reichenden Schutzeffekts der gesetzlichen Regelung für das Leben Ungeborener insbesondere auf folgende Mängel zurückzuführen, auf welche die Juristen-Vereinigung Lebensrecht schon seit Jahren wiederholt hingewiesen hat.

1. Überlebenschance statt Lebensrecht
Dem ungeborenen Kind steht in jedem Stadium der Schwangerschaft auch gegen-über seiner Mutter ein eigenes Recht auf Leben zu. Davon sind das BVerfG (Leitsatz 1 und S. 252) sowie der Gesetzgeber übereinstimmend ausgegangen. Lebensrecht aber bedeutet seinem Wesen nach, dass das Lebendürfen nicht von der Entscheidung anderer abhängig ist. In krassem Widerspruch hierzu überlässt das „Beratungskonzept“ der Schwangeren die Letztverantwortung zur Entschei-dung über Leben oder Tod ihres Kindes. Dadurch bleibt ihm lediglich eine Überlebenschance, die häufig gleich null ist.

2. Verfall des Rechtsbewusstseins
Das BVerfG ist grundsätzlich von einem „verfassungsrechtlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs“ ausgegangen, das im Gesetz bestätigt und verdeutlicht werden müsse (255, 262, 273). Eine auch nur annähernd deutliche Kennzeichnung der Tötung Ungeborener als Unrecht ist im Gesetz jedoch nirgendwo zu finden. Unrechtsfolgen wurden überdies - angeblich „konzept-bedingt“ - ausgeschlossen. Deshalb sowie aufgrund der Durchführung in einem ausreichenden und flächendeckenden Netz ambulanter wie stationärer Ein-richtungen als „Staatsaufgabe“ (328) können „beratene“ Abtreibungen nach geltendem Gesetz kaum mehr als verboten, d.h. rechtswidrig erkannt werden. Dementsprechend gelten sie inzwischen in der Rechtsprechung, Rechtslehre und in der öffentlichen Meinung vielfach als rechtmäßig. Der Beratung und ihrer Bescheinigung wird also nicht bloß eine strafbefreiende, sondern darüber hinaus eine rechtfertigende Wirkung beigemessen. Der darin zu sehende Verfall des Rechtsbewusstseins stellt den Schutzeffekt des „Beratungskonzepts“ grundlegend in Frage. In der Erhaltung und Stärkung des Rechtsbewussteins hat aber das BVerfG – ohne weiteres einleuchtend – gerade die Grundvoraussetzung für einen wirksamen Lebensschutz durch Beratung gesehen (268, 273, 278, 320). Diese bleibt unerfüllt.

3. Schutzdienliche Beratung nicht gewährleistet
Besseren Lebensschutz erhofft sich der Gesetzgeber von einer Pflichtberatung. Deren tatsächliche Durchführung ist jedoch nicht gesichert. Das Gesetz geht lediglich von der Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der Schwangeren aus. Es verlangt eine solche Mitwirkung aber letztlich nicht als Voraussetzung für die Erteilung eines Beratungsscheins. Dieser muss vielmehr, wenn sonst der Ablauf der gesetzlichen Fristen droht, sogar dann ausgestellt werden, wenn die Schwangere sich weigert, Gründe für ihren Abbruchwunsch anzugeben.

Eine Beratung, die dem Lebensschutz Ungeborener tatsächlich dient, ist auch deshalb nicht gewährleistet, weil der Staat diese eigene Aufgabe meist anderen Trägern überlässt, ohne in Gesetz und Praxis ausreichend dafür Sorge zu tragen, dass diese die den Vorgaben des BVerfG (287) entsprechende Eignung besitzen.
Infolge dessen wird die Beratung auch solchen Trägern überlassen, deren Grundeinstellung zum Schutz ungeborenen Lebens zweifelhaft ist. Weil sich die Beratungstätigkeit zudem einer wirksamen Kontrolle weitgehend entzieht, verkommt Beratung vielfach zur bloßen Formalität.

Lebensschutz durch Beratung verlangt zudem eine ausreichende Überlegungsfrist. Bei Anwendung herkömmlicher Abtreibungsmethoden dauert sie praktisch nur acht Wochen. Bei der vom Gesetz inzwischen ermöglichten Abtreibung mit Mifegyne beträgt sie wegen der verlangten sicheren Feststellung der Schwangerschaft und der zeitlich begrenzten Anwendbarkeit dieses Mittels jedoch nur wenige Tage. Es erscheint illusorisch, dass eine oft genug unter dem Druck ihres Umfeldes stehende Schwangere in einer derart kurzen Zeit noch zum Austragen des Kindes bewogen werden kann. Indem der Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Zulassung von Mifegyne geschaffen hat, hat er deshalb eine Schutzwirkung seiner Regelung für das ungeborene Kind selbst unmöglich gemacht.

Obwohl die Beratung Aufgabe des Staates ist, hat dieser bisher nicht für eine zuverlässige Ermittlung der Zahlen der in den einzelnen Ländern und Beratungs-stellen stattgefundenen Beratungen sowie der ausgestellten Bescheinigungen Sorge getragen. Diese ist für eine Erfolgskontrolle jedoch unverzichtbar. Eine entsprechende Ergänzung der Bundesstatistik ist deshalb geboten.

4. Mitwirkung des Arztes ohne Schutzeffekt
Nach dem Urteil des BVerfG (289) obliegt auch und gerade dem Arzt eine Schutzaufgabe für das ungeborene Leben. Der Staat müsse sicherstellen, dass der Arzt diese Schutzaufgabe bei der ärztlichen Beratung und der Entscheidung über die Mitwirkung am Schwangerschaftsabbruch wahrnehmen könne. Der Arzt dürfe einen verlangten Schwangerschaftsabbruch nicht lediglich vollziehen, sondern habe sein ärztliches Handeln zu verantworten.

Die Erfüllung dieser Aufgabe ist bereits dadurch nachhaltig in Frage gestellt, dass das BVerfG selbst auf die Mitwirkung der Ärzte am „Beratungskonzept“ setzt und damit von der Verantwortbarkeit auch solcher Abtreibungen ausgeht, die nach eigener Auffassung grundsätzlich einem verfassungsrechtlichen Verbot unterlie-gen. Zudem hat das BVerfG den ärztlichen, auf eine rechtswidrige Abtreibung zie-lenden Behandlungsvertrag als rechtmäßig bewertet und sogar in den grund-rechtlichen Schutz der Berufsfreiheit einbezogen.

Davon abgesehen hat der Gesetzgeber die Wahrnehmung der ärztlichen Schutz-aufgabe nicht in der gebotenen Weise sichergestellt. Insbesondere gebietet das Gesetz dem Arzt lediglich, der Frau Gelegenheit zur Darlegung der Gründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft zu geben. Sich diese Gründe stets darlegen zu lassen, ist der Arzt gesetzlich nicht verpflichtet, obwohl dies die Mindestvoraussetzung einer verantwortbaren Entscheidung zum Abbruch wäre.

Ferner hat der Gesetzgeber die Forderung des BVerfG (295) missachtet, den Gefahren zu begegnen, welche von Einrichtungen ausgehen, die auf Abtreibungen spezialisiert sind. In solchen ist ein Lebensschutz Ungeborener durch ärztliches Handeln schon gar nicht zu erwarten.

5. Mangelnder Schutz der Schwangeren vor Pressionen
Der laut BVerfG (296) gebotene Schutz vor Gefahren, die von Dritten ausgehen, insbesondere von Personen aus dem familiären und sozialen Umfeld der Schwangeren, ist nicht gewährleistet. Insbesondere fehlt es an strafbewehrten Verhaltensgeboten und -verboten über die praktisch wirkungslose Strafdrohung im Fall der Nötigung hinaus.

6. Diskriminierung Behinderter bei Spätabtreibung
Die weite Fassung der medizinischen Indikation ist, soweit mit ihr auch die Fälle der früheren embryopathischen Indikation „aufgefangen“ werden sollen, mit dem grundgesetzlichen Verbot einer Diskriminierung Behinderter nicht zu vereinbaren. Sie ermöglicht es, ungeborene Kinder ohne zeitliche Befristung „nicht rechtswidrig“
zu töten. Dies hat in der Praxis dazu geführt, dass in Deutschland jährlich etwa 800 Ungeborene wegen nicht selten unsicher diagnostizierter, mehr oder weniger schwerwiegender Behinderungen selbst noch nach Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit abgetrieben werden. Oft genug geschieht dies unter dem auf dem Arzt lastenden Druck einer nach der Rechtsprechung drohenden Schadensersatzpflicht wegen der Geburt eines behinderten Kindes. Manche der Abgetriebenen überleben den Eingriff und werden in der Erwartung ihres baldigen Todes unversorgt liegen gelassen. Ein solches Überleben wird inzwischen zunehmend durch eine - ethisch unverantwortliche -Tötung des Kindes im Mutterleib mittels einer Kaliumchlorid-Spritze ins Herz verhindert. Der Gesetzgeber hat es bisher nicht für nötig befunden, der skandalösen Praxis solcher Spätabtreibungen durch eine dem grundgesetzlichen Diskriminierungsverbot Rechnung tragende Ein-schränkung der medizinischen Indikation zu begegnen.

Aufgrund des inzwischen zerrütteten Rechtsbewusstseins mag eine Verbesserung
des Lebensschutzes mittels des Strafrechts derzeit nicht erreichbar sein. Die Schutzpflicht des Staates für das Leben Ungeborener gebietet jedoch zumindest, Abtreibungen, auch wenn sie nach Beratung erfolgen, klar als Unrecht zu kenn-zeichnen, als solches zu behandeln und nicht länger staatlich zu fördern.

Die Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. appelliert erneut an den Deutschen Bundestag, endlich seiner Beobachtungspflicht nachzukommen und aus der offenkundigen Schutzuntauglichkeit der geltenden Gesetze zum Schwanger- schaftsabbruch die gebotenen Konsequenzen zu ziehen.

Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V., Postfach 50 13 30, 50973 Köln
Tel. 0221 / 13 44 78; Fax 0221 / 222 59 57
http.:// www.juristen-vereinigung-lebensrecht.de
E-mail: info@juristen-vereinigung-lebensrecht.de

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