Symbolfoto, © Sebastian Ständecke, www.pixelquelle.de Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen

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10.04.2008

Auf der schiefen Stammzellbahn. Wenn der Stichtag fällt, ist der Embryonenschutz nicht mehr zu halten

Eine Revolution der Biopolitik steht an - mit dem Segen von Ministerin Schavan und Bischof Huber

"Am 11. April entscheidet sich das Schicksal des Stammzellgesetzes. Der
Deutsche Bundestag wird am selben Tag, an dem sich der neue Deutsche
Ethikrat im Reichstagsgebäude konstituieren soll, darüber abstimmen, ob
der im Jahre 2002 festgelegte Stichtag für diejenigen menschlichen
embryonalen Stammzelllinien, die aus dem Ausland nach Deutschland
eingeführt werden dürfen, vom 1. Januar 2002 auf den 1. Mai 2007
verschoben wird, ob er unverändert bestehen bleibt, oder ob er gänzlich
aufgehoben werden soll. Was auf den ersten Blick wie eine kalendarische
Marginalie aussieht, denn es geht dem Anschein nach nur um eine
Differenz von 64 Monaten in der Vergangenheit, bedeutet in Wahrheit
wesentlich mehr: Wir stehen vor einem biopolitischen Kurswechsel mit
erheblichen Folgen für den Schutz des frühen menschlichen Lebens.

Eine Verschiebung des ursprünglichen Stichtages müsste von den Forschern
als ein deutliches Signal dafür gewertet werden, dass der Gesetzgeber
seine eigenen Vorgaben aus dem Jahre 2002 nicht mehr ernst nimmt. Der
Zweck des Stichtages 1. Januar 2002 lag und liegt nämlich darin, dass
eine von Deutschland ausgehende Veranlassung der Embryonenzerstörung im
Ausland zur Gewinnung von menschlichen embryonalen Stammzellen vom Jahre
2002 an vermieden werden sollte. Eine solche Veranlassung kann aber
nicht mehr ausgeschlossen werden, wenn der potenzielle Exporteur von
Stammzellen damit rechnen kann, dass die von ihm gewonnenen Zellen durch
deutschen Forscher eines nicht allzu fernen Tages eingeführt werden
können. Denn kein Politiker kann die Hand dafür ins Feuer legen, dass es
bei der Einmaligkeit einer Stichtagsverschiebung bleiben würde. Hier von
endgültigen Garantien zu sprechen, hielt deshalb auch
Bundesforschungsministerin Annette Schavan schon in einem Interview vom
27. Dezember 2007 für „nicht seriös und für falsch“. Weitere
Stichtagsverschiebungen sind damit bereits politisch einkalkuliert.

In ethischen Debatten ist das Argument der so genannten „schiefen
Ebene“, das bisweilen auch als „Dammbruchargument“ formuliert wird,
nicht besonders gern gesehen. Die Verwirklichung einer solchen schiefen
Ebene sei nicht zwingend, so sagen die Kritiker des Arguments,
schließlich könne man an jedem Punkt des abschüssigen Weges anhalten.
Der Diskurs um eine Verschiebung des Stichtages für den Import
menschlicher embryonaler Stammzellen kann jedoch als ein
Lehrbuchbeispiel für die tatsächliche Relevanz schiefer Ebenen
betrachtet werden. Falls nämlich der Bundestag die Forschung an
menschlichen embryonalen Stammzellen trotz der ihr im Ausland voraus
gegangenen Zerstörung von Embryonen um der Förderung der biologischen
und medizinischen Forschung willen tatsächlich für wichtig und
förderungswürdig halten sollte, dann wird er konsequenter Weise in nicht
allzu ferner Zukunft die Erlaubnis dazu erteilen müssen, dass solche
Zellen auch in Deutschland selbst hergestellt werden; die völlige
Stichtagsabschaffung als Vorstufe dazu fordern bereits heute die
Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie die Deutsche Gesellschaft für
Innere Medizin. Unter ethischen Erwägungen könnte man auf längere Sicht
keinesfalls jene Doppelmoral rechtfertigen, die dadurch offenkundig
würde, dass in Deutschland zwar hochkarätige Forschung an möglichst
frischen embryonalen Stammzellen stattfinden soll, während man die dafür
erforderliche Zerstörung embryonalen menschlichen Lebens dauerhaft ins
Ausland verlagert.

Damit stünde aber Paragraph 2 des 1990 erlassenen
Embryonenschutzgesetzes (ESchG) zur Disposition, wonach es bislang
verboten ist, einen menschlichen Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung
dienenden Zweck abzugeben, zu erwerben oder zu verwenden oder diesen
sich außerhalb des Körpers weiter entwickeln zu lassen. Weiterhin
müssten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass in der Praxis
genügend Embryonen aus der In-vitro-Fertilisation für die Herstellung
embryonaler Stammzelllinien zur Verfügung stünden. Dies würde an drei
Stellen eine Aufhebung der Strafbarkeit in Paragraph 1 ESchG erfordern.
Bislang sind nämlich folgende Handlungen mit Strafe bedroht: 1. eine
Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als demjenigen,
eine Schwangerschaft der Frau herbei zu führen, von der die Eizelle
stammt, 2. mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als dieser innerhalb
eines Zyklus übertragen werden sollen, 3. künstlich zu bewirken, dass
eine menschlichen Samenzelle in eine menschliche Eizelle eindringt, oder
eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle künstlich zu
verbringen, ohne eine Schwangerschaft der Frau herbei führen zu wollen,
von der die Eizelle stammt. Diese drei Verbote müssten innerhalb weniger
Jahre abgeschafft werden. Durch den logisch folgerichtigen Eingriff in
das Embryonenschutzgesetz würden zugleich genau diejenigen, ohnehin
fragmentarischen, strafrechtlichen Hemmnisse beseitigt, die bislang
einer Legalisierung der zur Selektion vorgeburtlichen menschlichen
Lebens dienenden Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland noch
entgegen stehen.

Es geht also bei der Verschiebung des Stichtags im Stammzellgesetz in
Wahrheit um einen Dammbruch beim Embryonenschutz. Diese weit reichenden
Konsequenzen sollten sich vor allem diejenigen Politikerinnen und
Politiker vor Augen führen, die sich bisher in biopolitischen Fragen
neutral oder zwischen den Fronten vermittelnd verhalten haben. Denn die
Protagonisten der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen
haben diese Folgewirkungen einkalkuliert und stellen bereits jetzt
weitere Forderungen nach gesetzlichen Lockerungen. Es sollte zur
Ehrlichkeit und Seriosität der ethischen und politischen Argumentation
gehören, die für jeden Kenner der Materie absehbaren Konsequenzen einer
keineswegs „einmaligen“ Stichtagsverschiebung zu benennen, anstatt sie
mit dem – in diesem Falle deutlich zu kurzen – Mantel scheinbarer
christlicher Nächstenliebe zu verhüllen.

Dessen ungeachtet verteidigte noch Mitte Februar der Ratsvorsitzende der
EKD, Bischof Wolfgang Huber, die von ihm selbst seit November 2006
propagierte Stichtagsverschiebung mit einem paradoxen Argument: Er
fürchte, dass eine „zu starre Haltung“ einer viel weiter gehenden
Liberalisierung Vorschub leisten werde. Bedenken der Forschungsgegner,
eine Stichtagsverlegung ziehe die nächste nach sich, hielt er entgegen,
von einem Automatismus könne keine Rede sein. Die EKD-Synode habe
klargestellt, dass es nur um eine einmalige Verschiebung gehen könne.
Hier muss man allerdings bedenken, dass die evangelische Kirche wohl
kaum eine künftige Entscheidung des Deutschen Bundestages unterbinden
könnte.

Befürworter der Stichtagsverschiebung halten die Ausweitung des
Stammzellimports vor allem aus drei Gründen für geboten: Seit 2002 seien
die importfähigen embryonalen Stammzelllinien knapp geworden. Zudem
seien sie inzwischen durch tierische Nährmedien verunreinigt und somit
nur noch bedingt brauchbar. Vor allem aber, so das zentrale Argument,
seien die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung an embryonalen
Stammzellen langfristig unverzichtbar für die Nutzbarmachung der ethisch
unbedenklichen und klinisch seit Jahrzehnten erfolgreich eingesetzten
adulten Stammzellen.

Doch keiner der drei Gründe trifft zu: So war im April 2002 nach
Auskunft des amerikanischen Stammzellregisters nur eine einzige
Zelllinie für den Versand verfügbar, während im Februar 2008 im Prinzip
21 Zelllinien nach Deutschland eingeführt werden können. Damit sind die
beziehbaren, stichtagskonformen Linien menschlicher embryonaler
Stammzellen heute deutlich mehr als zur Zeit der Verabschiedung des
Stammzellgesetzes. Dass diese Zelllinien für die biologische
Grundlagenforschung – und nur um diese geht es in Wirklichkeit – nicht
mehr gut brauchbar seien, erscheint vor dem Hintergrund unglaubhaft,
dass allein im ersten Quartal 2008 das beim Robert Koch-Institut
geführte Register der Forschungsvorhaben mit menschlichen embryonalen
Stammzellen in Deutschland vier neue Genehmigungen erteilt hat, zuletzt
am 19. März die 27. Genehmigung an das DFG-Zentrum für Regenerative
Therapien der Technischen Universität Dresden. Weshalb schließlich die
seit mehr als vier Jahrzehnten erfolgreich in der Therapie eingesetzte
medizinische Behandlung mit den ethisch unbedenklichen adulten
Stammzellen auf Erkenntnisse aus der erst seit zehn Jahren überhaupt
existierende Forschung an embryonalen Stammzellen angewiesen sein soll,
ist eine allein schon wissenschaftstheoretisch abenteuerliche
Behauptung, die weder logisch einleuchtend ist noch durch konkrete
historische Belege gestützt werden kann.

Die Diskussion um das deutsche Stammzellgesetz ist ethisch und sachlich
längst auf einer schiefen Ebene der Seriosität angekommen, was zu großer
Sorge Anlass gibt. Denn Rationalität und Moral drohen gleichermaßen auf
der Strecke zu bleiben, wenn haltlose Heilsversprechungen systematisch
verbreitet und wenn sie vom Publikum kritiklos akzeptiert werden. Die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben nun mit Recht das letzte
Wort in dieser Sache."

Professor Dr. Axel W.Bauer in der FAZ am 8.4.08

Axel W. Bauer ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der
Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität
Heidelberg und Mitglied des Deutschen Ethikrates.

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